Als Vasudeva alle Türen und Tore
wieder verriegelt
hatte, erwachten
die Torwächter
und hörten das
neugeborene Kind weinen. Sofort
benachrichtigten sie
Kamsa, der bereits ungeduldig die
Geburt des Kindes
erwartete. Als
die Wächter Kamsa
die Nachricht
überbrachten, fuhr er augenblicklich aus seinem Bett hoch
und rief aus: "Nun ist mein
grausamer Tod geboren!"
Kalter Schweiß trat ihm auf die
Stirn, da er sein Ende
nahen sah, und die Haare standen
ihm zu Berge. Sofort
eilte er in den Kerker, wo das Kind geboren worden war.
Als Devaki ihren Bruder hereinstürzen sah, fiel sie auf
die Knie und flehte ihn demütig an: "Mein lieber Bruder,
bitte töte dieses Kind nicht! Es ist ein Mädchen, und ich
verspreche dir, daß ich sie deinem
Sohn zur Frau geben
werde; deshalb schone bitte ihr
Leben. Du solltest doch
von der Hand eines männlichen
Kindes sterben — so
lautete die Prophezeiung. Warum willst
du also dieses
Mädchen töten? Mein lieber Bruder,
du hast so viele
meiner Kinder umgebracht, die gerade erst das Licht der
Welt erblickt hatten und die
strahlend wie die Sonne
waren. Es war ja nicht dein
Fehler — dir ist von
dämonischen Freunden geraten worden, meine Kinder zu
ermorden —, aber nun bitte ich dich,
wenigstens diesem
Mädchen gnädig zu sein und es am Leben zu lassen."
Kamsa war jedoch
so grausam, daß
ihn die
flehentlichen Bitten seiner
Schwester Devaki nicht
berührten; vielmehr, als wolle er seine Schwester für ihre
Worte bestrafen, riß er ihr das neugeborene Kind aus den
Armen und wollte es
gnadenlos auf dem Boden
zerschmettern. Dieses Verhalten zeigt, wie ein grausamer
Dämon alle verwandtschaftlichen Beziehungen vergessen
kann, wenn es um seine eigene
Person geht. Das Kind
jedoch entschlüpfte blitzschnell seinen Händen, erhob sich
zum Himmel und
verwandelte sich in die
jüngere
Schwester Visnus mit acht Armen. Sie trug ein prächtiges
Gewand, Blumengirlanden und Geschmeide
und hielt in
ihren Händen Bogen, Lanze, Schwert,
Pfeile, Muschel,
Feuerrad, Keule und Schild.
Als die Halbgötter auf den verschiedenen Planeten wie
Siddhaloka, Caranaloka,
Gandharvaloka, Apsaraloka,
Kinnaraloka und Uragaloka die Erscheinung
des Kindes
sahen, das in Wirklichkeit die Göttin Durga war, brachten
sie ihm verschiedene Gaben und
Gebete dar. Aus der
Höhe rief die Göttin Kamsa zu: "Elender, wie kannst du es
wagen, mich töten zu wollen? Das
Kind, das dich töten
wird, ist bereits vor mir an
einem anderen Ort der Welt
geboren worden. Sei nicht so
grausam zu deiner armen
Schwester." Nach dieser Erscheinung wurde
die Göttin
Durga unter verschiedenen Namen in
vielen Teilen der
Welt bekannt.
Als Kamsa diese Worte hörte, wurde er von panischer
Angst ergriffen. Aus Furcht ließ er Vasudeva und Devaki
sofort frei und begann ehrerbietig
zu ihnen zu sprechen.
Er sagte: "Meine liebe
Schwester und mein lieber
Schwager, ich habe wie ein Dämon
gehandelt, als ich
meine eigenen Neffen tötete. Ich
habe unsere engen
verwandtschaftlichen Beziehungen außer acht
gelassen,
und ich weiß nicht, was die
Folge meiner Handlungen
sein wird. Vielleicht werde ich zur
Hölle geschickt, wo
Mörder von brahmanas
hingehören. Ich bin jedoch
überrascht, daß sich die himmlische
Prophezeiung nicht
bewahrheitet hat. Es sieht so aus, als würden nicht nur die
Menschen lügen und
betrügen, sondern
auch die
Bewohner der himmlischen
Planeten. Weil ich den
Worten der Halbgötter Glauben geschenkt
habe, beging
ich die schwere Sünde,
die Kinder meiner eigenen
Schwester umzubringen. Lieber
Vasudeva und liebe
Devaki, ihr seid große Seelen. Ich bin nicht in der Lage,
euch Unterweisungen zu erteilen, aber
dennoch bitte ich
euch, über den Tod eurer Kinder nicht zu unglücklich zu
sein. Jeder von uns wird von
einer höheren Macht
kontrolliert, und diese höhere Macht gestattet es uns nicht,
für immer zusammenzubleiben. Wir sind
gezwungen, im
Laufe der Zeit von unseren Freunden
und Verwandten
Abschied zu nehmen.
Doch dabei dürfen wir
nie
vergessen, daß die Seele, obwohl
der materielle Körper
vergeht, ewig und unvergänglich ist. Zum Beispiel gibt es
viele Töpfe aus Ton — sie
alle werden hergestellt und
zerbrechen nach einiger Zeit; aber
trotzdem bleibt die
Tonerde immer, wie sie ist. Ebenso
werden die Körper,
die die Seele annimmt, unter verschiedenen Bedingungen
zusammengesetzt und wieder aufgelöst;
doch die Seele
existiert ewiglich. Daher gibt es
keinen Grund, um den
Verlust des Körpers zu trauern. Jeder sollte verstehen, daß
der materielle
Körper von der
spirituellen Seele
verschieden ist. Solange man nicht zu diesem Verständnis
kommt, ist es sicher, daß man
immer wieder von einem
Körper zum
anderen wandern
muß. Meine liebe
Schwester, du bist so sanft und
gütig. Bitte verzeih mir,
und sei wegen des
Todes deiner Kinder,
den ich
verschuldet habe, nicht betrübt. Im
Grunde genommen
habe ich all diese Untaten gar nicht selbst getan, denn sie
waren vorherbestimmt.
Man ist
gezwungen, dem
vorherbestimmten Plan entsprechend zu handeln — sogar
wider Willen. Die meisten Menschen
glauben, mit dem
Ende des Körpers sterbe auch das Selbst, oder sie denken,
es sei möglich, ein anderes Lebewesen zu töten. All diese
falschen Vorstellungen zwingen uns dazu, ein materielles
Dasein zu fristen. Mit anderen Worten, solange man sich
nicht vollkommen über die Ewigkeit der Seele bewußt ist,
verbleibt man in einer leidvollen Situation, wo man meint,
andere Lebewesen zu töten oder selbst getötet zu werden.
Liebe Devaki und lieber Vasudeva, verzeiht mir in eurer
Güte die Abscheulichkeiten, die ich gegen euch begangen
habe. Ich bin so hartherzig, und ihr seid so großherzig —
darum habt Erbarmen, und vergebt mir."
Als Kamsa auf diese Weise sprach, traten ihm Tränen
in die Augen, und weinend fiel er Vasudeva und Devaki
zu Füßen. Weil er den Worten Durgadevis, die er versucht
hatte zu töten, Glauben schenkte, befreite er sofort seinen
Schwager und seine Schwester. Kamsa
öffnete ihnen
persönlich die Ketten,
und mit Freundlichkeit und
Wohlwollen zeigte er ihnen seine Freundschaft, genau wie
es sich für ein Familienmitglied geziemt.
Als Devaki ihren Bruder so voller Reue sah, empfand
sie
Mitleid
mit
ihm
und
vergaß sein
verabscheuungswürdiges Verbrechen an ihren
Kindern.
Auch Vasudeva, der die Vergangenheit
ruhen lassen
wollte, lächelte und sagte zu
seinem Schwager: "Mein
lieber Kamsa, es ist richtig, was du über
den materiellen
Körper und die Seele gesagt hast. Jedes Lebewesen wird
in Unwissenheit geboren und hält folglich den materiellen
Körper für das Selbst. Dieser Irrtum hat seine Ursache in
unserer Unwissenheit, und aufgrund dieser
Unwissenheit
entwickeln wir Feindschaft und
Freundschaft. Klagen,
Freude, Furcht, Neid, Gier, Illusion und Verrücktheit sind
verschiedene Aspekte unserer materiellen Auffassung des
Lebens. Ein Mensch, der ihren
Einflüssen unterliegt,
verhält sich nur
aufgrund des materiellen Körpers
feindselig. Weil wir solchen Tätigkeiten
nachgehen, vergessen wir unsere ewige
Beziehung zur Höchsten
Persönlichkeit Gottes."
Als Vasudeva Kamsas Wohlwollen sah,
nutzte er die
Gelegenheit und klärte ihn darüber auf, daß der Grund für
sein atheistisches Verhalten ebenfalls in
der falschen
Auffassung des Lebens zu suchen
sei, die er selbst
verurteilt hatte — nämlich in der
Identifizierung des
materiellen Körpers mit dem Selbst. Als Vasudeva solche
erleuchtenden Worte sprach, zeigte sich
Kamsa sehr
erfreut, und sein Schuldgefühl wegen der Morde an seinen
Neffen schwand dahin. Mit Erlaubnis
seiner Schwester
und seines Schwagers kehrte er erleichtert in seinen Palast
zurück.
Am nächsten Tag jedoch rief Kamsa all seine Berater
zusammen und erzählte ihnen von den Vorfällen, die sich
in der Nacht zuvor ereignet hatten.
Alle Berater Kamsas
waren Dämonen und ewige Feinde der Halbgötter, und so
waren sie sehr bestürzt, als sie
ihren Herrn von den
nächtlichen Ereignissen berichten hörten. Und obwohl sie
nicht sehr weise oder gelehrt waren, begannen sie, Kamsa
Ratschläge zu
erteilen: "O
Meister, laß uns
Vorbereitungen treffen, alle Kinder ohne
Ausnahme zu
töten, die während der letzten zehn Tage in allen Städten,
Dörfern und Höfen geboren wurden. Laß uns schnell und
entschlossen handeln. Die Halbgötter
werden bestimmt
nichts gegen uns unternehmen, wenn
wir schonungslos
zur Tat schreiten, denn sie
fürchten den Kampf mit uns.
Auch wenn sie den Wunsch hätten, uns daran zu hindern,
würden sie es nicht wagen, sich uns in den Weg zu stellen,
denn sie fürchten die unermeßliche Stärke deines Bogens.
In der Tat haben wir gesehen, daß sie jedesmal, wenn du
dich ihnen zum Kampf stelltest und
im Begriff warst,
deine Pfeile auf sie
abzuschießen, sofort die Flucht
ergriffen, um ihr Leben zu retten. Viele Halbgötter wagten
es nicht einmal, sich auf einen Kampf mit dir einzulassen,
sondern lösten sogleich ihre Turbane
und ließen die
Turbanfeder zu Boden fallen, als
Zeichen, daß sie sich
ergeben wollten. Mit gefalteten Händen baten sie dich um
Gnade und sagten: ,Lieber Herr, wir
alle fürchten deine
Stärke. Bitte verschone uns vor diesem Kampf, der für uns
aussichtslos ist.' Und wir konnten
sehen, daß du diese
Krieger, die sich dir hilflos ergaben, niemals getötet hast.
Sie zitterten vor
Angst, ihre
Bogen, Pfeile und
Streitwagen waren zerbrochen, sie dachten nicht mehr an
ihre militärische Pflicht und waren
unfähig, mit dir zu
kämpfen. Wir haben also tatsächlich
nichts von diesen
Halbgöttern zu befürchten. Sie sind
zwar sehr stolz
darauf, in Friedenszeiten große Kämpfer
außerhalb des
Schlachtfeldes zu sein, doch in Wirklichkeit haben sie auf
dem Schlachtheld weder Talent noch
militärische Stärke
vorzuweisen. Obwohl Visnu, Siva und Brahma stets bereit
sind, diesen Halbgöttern, die von Indra angeführt werden,
zu helfen, brauchen wir sie dennoch
nicht zu fürchten.
Was Visnu betrifft, so hat Er
Sich bereits in den Herzen
aller Lebewesen versteckt und kann nicht herauskommen.
Was Siva betrifft, so hat er bereits allem Handeln entsagt
und hat sich in den Wald zurückgezogen. Und Brahma ist
entweder ständig in Meditation versunken,
oder er ist
gerade dabei,
sich Bußen und
Entsagungen zu
unterziehen. Von Indra brauchen wir
gar nicht erst zu
reden — er ist wie ein Strohhalm im Vergleich zu deiner
Stärke. All diese Halbgötter bedeuten
also keine Gefahr
für uns. Aber wir sollten sie
auch nicht unterschätzen,
denn sie sind unsere erklärten Feinde. Wir müssen daher
vorsichtig sein und Schutzmaßnahmen
treffen. Um sie
ganz und gar
auszurotten, wollen wir
dir einfach
gehorsam dienen und immer bereit sein, deinem Befehl zu
folgen."
Die Dämonen fuhren fort: "Wenn der
Körper von
einer Krankheit befallen wird und
wenn man sich nicht
darum kümmert, dann wird diese
Krankheit unheilbar.
Ähnlich wird es sehr schwierig, die Sinne zu beherrschen,
wenn man sie
nicht bedachtsam
zügelt, sondern
ausschweifen läßt. Daher
sollten wir uns vor den
Halbgöttern sehr in acht nehmen,
denn sonst werden sie
zu mächtig, und es ist nicht
mehr möglich, sie zu
unterwerfen. Die Stärke der Halbgötter steht und fällt mit
Visnu, da es das endgültige Ziel aller religiösen Prinzipien
ist, Ihn zu erfreuen. Die vedischen
Unterweisungen, die
brahmanas, die
Kühe sowie alle
Bußen, Opfer,
Mildtätigkeiten und Gaben
sind zur Freude Visnus
bestimmt. Laßt uns also sofort beginnen, die brahmanas,
die das vedische Wissen besitzen, und die großen Weisen,
die die rituellen Opferdarbringungen vollziehen, zu töten.
Laß uns alle Kühe töten, von denen die Butter kommt, die
für die Ausführung von Opferungen unerläßlich ist. Bitte
laß uns freie Hand, sie alle zu töten."
In der Tat stellen die brahmanas,
die Kühe und das
vedische Wissen
sowie Entsagung, Wahrhaftigkeit,
Beherrschung der Sinne und des
Geistes, Ehrlichkeit,
Mildtätigkeit, Toleranz und
Opferdarbringungen die
Gliedmaßen von Sri Visnus transzendentalem Körper dar.
Sri Visnu weilt im Herzen eines jeden und ist der Führer
aller Halbgötter, einschließlich Sivas
und Brahmas. So
kamen die Minister zum Schluß:
"Wenn wir die großen
Weisen und die brahmanas töten, töten wir zweifelsohne
auch Sri Visnu."
Kamsa hörte sich die Ratschläge
seiner dämonischen
Minister an, und da er seit
jeher der skrupelloseste
Schurke war, beschloß er, die brahmanas und Vaisnavas
verfolgen zu lassen, und dadurch
verstrickte er sich nur
noch tiefer in das Netz der
allesverschlingenden, ewigen
Zeit. So gab er den Dämonen,
die ihn berieten, den
Befehl, die Heiligen im ganzen Land verfolgen zu lassen;
danach zog er sich in seine
Gemächer zurück. Die
Anhänger Kamsas standen unter dem
illusionierenden
Einfluß der Erscheinungsweise
der Leidenschaft und
Unwissenheit, und ihr einziges Interesse
war es, den
Weisen und Heiligen das Leben schwer zu machen. Eine
solch unheilvolle Verhaltensweise hat für gewöhnlich zur
Folge, daß sich die eigene
Lebensdauer verkürzt, das
heißt, die Dämonen beschleunigten auf diese Weise ihren
eigenen Niedergang und riefen ihren Tod geradezu herbei.
Das Vergehen, heilige Menschen zu verfolgen, ist so groß,
daß es nicht nur zu frühzeitigem Tod führt, sondern auch
zum Verlust von Schönheit, Ruhm,
religiösen Prinzipien
und der Möglichkeit, zu höheren
Planeten zu gelangen.
Getrieben von verschiedenen
Wahnideen, richten die
Dämonen nur Schaden an. Ein
Vergehen gegen die
Lotosfüße der
Gottgeweihten und
brahmanas ist
schwerwiegender als ein Vergehen gegen
die Lotosfüße
der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Aus
diesem Grund
wird eine gottlose Zivilisation zur
Ursache aller nur
denkbaren Katastrophen.
Hiermit
enden die Bhaktivedanta-Erläuterungen zum 4. Kapitel des Krsna-Buches:
"Kamsa beginnt seine Verfolgungen".