Sukadeva Gosvami war sehr erfreut,
als Maharaja
Pariksit ihn fragte, warum die Kuhhirtenjungen erst nach
einem Jahr über die Vernichtung Aghasuras sprachen, und
so sagte er: "Mein lieber König, durch deine Wißbegierde
machst du das Thema der transzendentalen Spiele Krsnas
noch frischer."
Es wird gesagt, daß es die Natur eines Gottgeweihten
ist, ständig seine Gedanken, seine
Energie, seine Worte,
seine Ohren usw. damit zu beschäftigen,
über Krsna zu
hören und zu chanten.
Dies wird Krsna-Bewußtsein
genannt, und jeder, der sich dem Hören und Chanten über
Krsna widmet, wird
diese transzendentalen Themen
niemals eintönig oder alltäglich finden. Hierin besteht der
Unterschied zwischen transzendentalen und
materiellen
Themen. Materielle Themen werden langweilig, und man
kann sich etwas Bestimmtes nicht lange anhören, sondern
verlangt schnell
nach Abwechslung.
Themen mit
transzendentalem
Inhalt
hingegen werden
nitya-nava-navayamana genannt, was bedeutet,
daß man
fortwährend, ohne zuermüden, über den Herrn hören und
chanten kann und dabei immer begieriger
wird, noch
mehr über Ihn zuerfahren.
Es ist die Pflicht
des spirituellen Meisters, dem
wißbegierigen und ernsthaften Schüler
alle vertraulichen
Dinge zu offenbaren, und so begann
Sukadeva Gosvami
zu erklären, warum die Einwohner von
Vrndavana ein
Jahr lang nicht über die Vernichtung Aghasuras sprachen.
Sukadeva Gosvami sagte zu dem König:
"Bitte höre
aufmerksam zu, während
ich dir dieses Geheimnis
enthülle."
Nachdem Sri Krsna Seine Freunde aus
dem Rachen
Aghasuras gerettet und den Dämon getötet hatte, führte Er
sie alle ans Ufer der Yamuna und sagte: "Seht nur, liebe
Freunde, wie gut dieser Platz zum
Mittagessen geeignet
ist und wie schön man auf dem
weichen, sandigen Ufer
der Yamuna spielen kann. Die
Lotosblumen stehen in
voller Blüte und erfüllen die ganze Umgebung mit einem
herrlichen Duft. Das Zwitschern der Vögel, das Rufen der
Pfauen und das Rauschen der Blätter antworten einander
und machen diesen schönen Ort hier
unter den Bäumen
noch lieblicher. Laßt uns also an
diesem Ort zu Mittag
essen, denn es ist bereits spät, und wir alle sind hungrig.
Wir behalten die Kälber in unserer
Nähe, wo sie vom
Wasser der Yamuna trinken können,
und während wir
unser Mittagessen einnehmen, lassen wir
sie im saftigen
Gras, das hier wächst, weiden."
Als die Jungen Krsnas Vorschlag hörten, stimmten alle
freudig zu und sagten: "O ja, laßt
uns hier Rast machen
und zu Mittag essen."
Sie ließen die Kälber
frei
umherlaufen, so daß diese sich am frischen Gras erfreuen
konnten, und nachdem sich alle
Kuhhirtenjungen um
Krsna herum niedergesetzt
hatten, öffneten sie ihre
Brotbeutel, die sie von zu Hause
mitgebracht hatten. Sri
Krsna saß in der Mitte Seiner
Freunde, die Ihm alle ihr
Gesicht zugewandt hatten,
und während sie aßen,
genossen sie es, den Herrn von
Angesicht zu Angesicht
sehen zu können. Krsna
glich dem Zentrum einer
Lotosblume, und die
Knaben umgaben Ihn wie
die
Blütenblätter. Sie
sammelten Blumen,
Blätter und
Baumrinde und legten ihre Picknickbeutel darauf, und so
begannen sie, in Krsnas Gemeinschaft zu Mittag zuessen.
Während des Essens entfaltete jeder der Jungen seine ihm
eigene Beziehung zuKrsna, und so tauschten sie in einer
vergnügten Stimmung gegenseitig scherzende Worte aus.
Krsna hatte Seine Flöte in den
Gürtel geschoben, und in
der linken Seite Seines Gewandes steckten das Büffelhorn
und der Hirtenstab. In Seiner
linken Hand, zwischen
Seinen blütengleichen Fingern, hielt Er eine Süßigkeit, die
aus Joghurt, Butter, Reis und
Fruchtsalat bestand. Die
Höchste Persönlichkeit
Gottes, der
Genießer der
Ergebnisse aller Opfer, lachte und
scherzte, während Er
mit Seinen Spielgefährten im Wald
von Vrndavana das
Mittagessen genoß. Die
ganze Zeit über hatten
die
Halbgötter vom Himmel aus diese
Szene mitverfolgt;
doch die
Kuhhirtenjungen waren
einfach in die
transzendentale Ekstase
der Gemeinschaft
mit der
Höchsten Persönlichkeit Gottes vertieft.
Unterdessen betraten die Kälber, die
in der Nähe
weideten, den tiefen Wald, angelockt
von den frischen
Gräsern, die dort wuchsen. Sie
verschwanden allmählich
außer Sichtweite, und als die Jungen plötzlich bemerkten,
daß die Kälber verschwunden waren, erschraken sie sehr
und riefen: "Krsna!"
Krsna ist der
Vernichter der
personifizierten Furcht, vor der sich
jeder fürchtet. Die
Furcht selbst jedoch fürchtet sich
vor Krsna. Als die
Jungen "Krsna!" riefen, überwanden sie daher sofort ihre
Furcht. Weil Krsna Seinen Freunden
sehr zugetan war,
wollte Er nicht, daß sie mit dem Essen aufhörten, um nach
den Kälbern zu suchen, und so sagte
Er: "Meine lieben
Freunde, ihr braucht eure Mahlzeit nicht zuunterbrechen.
Eßt ruhig weiter. Ich werde Mich
Selbst um die Kälber
kümmern." Und so machte Er Sich auf, um die Kälber zu
suchen. Er hielt überall in den
Wäldern und Berghöhlen
nach ihnen Ausschau, doch Er konnte sie nirgends finden.
Als die Halbgötter mit Staunen
sahen, wie Aghasura
von Krsna getötet wurde, kam auch
Brahma herbei, der
auf dem Lotos geboren worden war, der aus Visnus Nabel
wächst. Es überraschte ihn sehr, wie ein so kleiner Junge
wie Krsna derartige
Heldentaten vollbringen konnte.
Obwohl Brahma zu Ohren gekommen war, daß der kleine
Kuhhirtenjunge die Höchste Persönlichkeit
Gottes sei,
wollte er noch großartigere Spiele
von Ihm sehen. Aus
diesem Grund stahl er alle Kälber
und Kuhhirtenjungen
und brachte sie in ein Versteck.
Sri Krsna konnte daher
trotz emsigen Suchens die Kälber nicht finden, und als Er
ans Ufer der Yamuna zurückkehrte,
wo Er alle Seine
Freunde zurückgelassen hatte, mußte Er
feststellen, daß
auch sie verschwunden waren. Krsna war in Seiner Form
als Kuhhirtenjunge im Vergleich zu Brahma winzig klein,
doch weil Er die Höchste Persönlichkeit Gottes ist, wußte
Er sofort, daß die Kälber und
Knaben von Brahma
gestohlen worden waren. Er sagte
Sich: "Brahma hat
Meine Freunde und die Kälber
entführt, doch Ich kann
unmöglich ohne sie nach Vrndavana
zurückkehren —
ihren Müttern würde vor Kummer das Herz brechen."
Um den Müttern Seiner Freunde
unnötige Sorgen zu
ersparen und zugleich um Brahma von
der Allmacht der
Höchsten Persönlichkeit Gottes zu überzeugen, erweiterte
Sich Krsna
auf der
Stelle in
die entführten
Kuhhirtenjungen und Kälber. In den
Veden wird gesagt,
daß Sich die Höchste Persönlichkeit
Gottes durch Seine
spirituelle Energie in unzählige
Lebewesen erweitert.
Deshalb war es für Ihn nicht weiter schwierig, Sich auch
noch in die vielen Jungen und
Kälber zu erweitern. Er
nahm das genaue Aussehen der Jungen
an, die alle von
unterschiedlicher
Gestalt waren,
verschiedenartige
Gesichter und Körper hatten und
sich auch in ihren
Gewändern, ihrem Schmuck und ihrem
Verhalten von-
einander unterschieden. Mit
anderen Worten, jedes
Lebewesen besitzt unterschiedliche
Neigungen, denn
jedes ist eine individuelle Seele und unterscheidet sich in
seinem Tun und Verhalten von
anderen. Dennoch nahm
Krsna genaudie Gestalt jedes einzelnen Kuhhirtenjungen
an, und Er erweiterte Sich auch
in die Kälber, die
ebenfalls von verschiedener Größe und Farbe
waren und
sich unterschiedlich verhielten. All dies
war nur deshalb
möglich, weil alles Existierende von
Krsna ausgeht. Im
Visnu Purana heißt es dazu: parasya
brahmanah sakti.
Alles, was wir in der kosmischen Manifestation sehen, sei
es Materie oder seien es die Handlungen der Lebewesen,
ist nichts anderes als eine
Erweiterung der Energien des
Herrn, die von Ihm ausgehen wie Licht und Wärme vom
Feuer.
Krsna erweiterte Sich
also in die verschiedenen
Kuhhirtenjungen und Kälber mit all
ihren Eigenschaften
und kehrte, umgeben von Seinen
Erweiterungen, in das
Dorf Vrndavana zurück. Die Einwohner
von Vrndavana
ahnten nichts von dem, was
geschehen war. Als die
Kuhhirtenjungen mit ihren Herden ins Dorf heimkehrten,
gingen die Kälber in ihre Ställe
zurück, und auch die
Knaben gingen nach Hause zuihren Müttern zurück.
Schon lange bevor die Jungen das
Dorf erreichten,
hatten die Mütter ihr Flötenspiel vernommen.
Sie kamen
aus den Häusern und liefen ihren
Kindern entgegen, um
sie zu umarmen. Aufgrund ihrer starken
mütterlichen
Zuneigung strömte Milch aus ihren
Brüsten, und sie
erlaubten den Jungen, davon zutrinken. Sie ahnten nicht,
daß sie eigentlich nicht ihre
Söhne, sondern die Höchste
Persönlichkeit Gottes stillten, die Sich
in ihre eigenen
Kinder erweitert hatte. Sri Krsna
gab auf diese Weise
nicht nur Yasoda, sondern auch
allen anderen älteren
gopis die Gelegenheit, Ihn mit ihrer Milch zustillen.
Die Jungen verhielten sich ihren
Müttern gegenüber,
wie sie es immer getan hatten, und am Abend badeten die
Mütter ihre Kinder,
versahen sie mit tilaka
und
Schmuckstücken und gaben ihnen nach der langen Arbeit
des Tages reichlich zuessen. Die Kühe, die tagsüber auf
den Weidegründen gegrast hatten, kehrten am Abend ins
Dorf zurück, und sobald sie nach
ihren Kälbern riefen,
kamen diese augenblicklich herbeigelaufen,
worauf die
Kühe sie freudig beleckten. Die Beziehung zwischen den
Kühen und ihren Kälbern und
zwischen den gopis und
ihren Kindern blieb erhalten, ja
sie schien sich auf
unerklärliche Weise
sogar noch zu
vertiefen. So
vergrößerte sich ihre gegenseitige Zuneigung, obwohl die
wirklichen Kälber und Knaben gar nicht zugegen waren.
Bisher hatten sich die Kühe und
die älteren gopis von
Vrndavana mehr zuKrsna hingezogen gefühlt als zu ihren
eigenen Kindern, doch nach diesem
Vorfall verstärkte
sich ihre Zuneigung zuden Kindern so sehr, daß sie ihnen
gegenüber die gleiche Liebe empfanden
wie gegenüber
Krsna. Ein Jahr lang verblieb Krsna
in der Gestalt der
Kälber und der Kuhhirtenjungen, und
so war es allein
Krsna, der in Form dieser
verschiedenen Erweiterungen
auf den Weidegründen gegenwärtig war.
Wie in der Bhagavad-gita erklärt wird, weilt Krsna als
Überseele im Herzen eines jeden Lebewesens. In diesem
Falle jedoch erweiterte Er Sich
nicht als Überseele,
sondern als die Form der Kälber
und Kuhhirtenjungen,
und das für die Dauer eines ganzen Jahres.
Eines Tages, als Krsna und Balarama
die Kälber im
Wald hüteten, sahen Sie von weitem einige Kühe auf der
Spitze des Govardhana-Hügels weiden. Als die Kühe den
Hang hinunterblickten und die Jungen
mit den Kälbern
sahen, liefen sie plötzlich mit
weitausgreifenden Beinen
den Hügel hinunter. Sie liebten
ihre Kälber so sehr, daß
sie gar nicht bemerkten, wie steinig der Pfad war, der vom
Govardhana-Hügel hinunter zu den Weiden
führte. Mit
prall gefüllten Eutern und steil
erhobenen Schwänzen
stürmten sie den Abhang hinab,
während ihre Euter
Ströme von Milch vergossen — so
sehr waren die Kühe
ihren Kälbern zugetan, die in
Wahrheit gar nicht ihre
eigenen waren. Diese Kühe hatten bereits neue Kälber zur
Welt gebracht, und die
Kälber, die am Fuß des
Govardhana-Hügels grasten, waren bereits aus dem Alter
heraus, wo sie noch vom Euter der Mutter trinken mußten.
Dennoch liefen all die Kühe direkt auf die Kälber zu und
begannen sie zu belecken, während die
Kälber ihrerseits
die Milch aus den Eutern ihrer Mütter saugten. Zwischen
den Kühen und den Kälbern bestand
offensichtlich eine
ungewöhnlich starke liebevolle Beziehung.
Als die Kühe von der Höhe des
Govardhana-Hügels
hinunterrannten, versuchten die Hirten,
sie aufzuhalten.
Die älteren Kühe werden nämlich von
den Männern
bewacht, und die Knaben kümmern
sich um die Kälber.
Die Kälber werden soweit wie
möglich von den Kühen
getrennt gehalten, damit sie nicht deren Euter leertrinken,
und deshalb versuchten die Männer
auf dem Govar-
dhana-Hügel, ihre
Tiere zurückzuhalten.
Alle ihre
Bemühungen waren jedoch vergebens, und so blieb ihnen
nichts anderes übrig, als hinab ins
Tal zu gehen, um die
Tiere zurückzuholen. Beschämt und ärgerlich machten sie
sich auf den Weg; doch als sie dann am Fuß des Hügels
ankamen und ihre Kinder bei den
Kälbern sahen, regten
sich in ihnen plötzlich tiefe Gefühle der Liebe. Dies war
recht erstaunlich, denn obgleich die
Männer aufgrund
ihres mißglückten Versuches, die Kühe
zurückzuhalten,
enttäuscht und verdrossen den Hügel
heruntergekommen
waren, schmolzen ihre Herzen in großer Zuneigung beim
Anblick ihrer Söhne.
Ihre Unzufriedenheit und ihr
Mißmut verflogen im Nu, und mit
väterlicher Liebe
nahmen sie ihre Kinder in die Arme, drückten sie an sich
und sogen den Duft ihrer Köpfe
ein. Einfach indem sie
mit ihren Kindern zusammen waren,
fühlten sie eine
überwältigende Freude. Nach dieser
Liebkosung trieben
60
die Männer die Kühe auf den Govardhana-Hügel zurück,
und als sie an ihre Kinder
dachten, traten ihnen Tränen
der Zuneigung in die Augen.
Balarama, der diesen ungewöhnlichen
Austausch von
Zuneigung zwischen den Kühen und ihren Kälbern sowie
zwischen den Vätern und ihren
Söhnen beobachtete —
obwohl eigentlich weder die Kälber noch die Kinder eine
derart große Umsorgung benötigten —, suchte nach einer
Erklärung für dieses
außerordentliche Verhalten. Es
wunderte Ihn, daß die Einwohner von
Vrndavana eine
ebenso große Zuneigung für ihre
Kinder wie für Krsna
empfanden, und dasselbe ließ sich bei
den Kühen und
ihren Kälbern feststellen. Balarama
vermutete, daß diese
außergewöhnliche Offenbarung von Zuneigung
eine ge-
heimnisvolle Ursache haben mußte, die
entweder auf
einen Halbgott
oder auf
irgendeinen machtvollen
Menschen zurückzuführen war. Wie sonst
hätte diese
wundersame Veränderung stattfinden können?
So kam
Balarama zur
Überzeugung, daß
diese mystische
Wandlung nur Krsna zur Ursache
haben konnte, den Er
als Seinen verehrungswürdigen
Herrn, die Höchste
Persönlichkeit Gottes, betrachtete. Er
sagte Sich: "All
diese Vorfälle wurden von Krsna
gelenkt, und nicht
einmal Ich
konnte
Seine
mystischen Kräfte
durchschauen." Auf
diese Weise
konnte Balarama
verstehen, daß die Knaben und die Kälber Erweiterungen
Krsnas waren.
Balarama wandte Sich an Krsna, um
die wahren
Zusammenhänge zuerfahren, und deshalb sagte Er: "Mein
lieber Krsna, anfangs
dachte Ich, die Kälber
und
Hirtenjungen seien entweder große Heilige
und Weise
oder Halbgötter, doch jetzt bin Ich
der Ansicht, daß sie
Deine Erweiterungen sind. Sie alle
sind Du. Du Selbst
spielst die Rolle der
Kälber und Knaben. Welches
Geheimnis verbirgt
sich dahinter? Wo
sind die
ursprünglichen Kälber und Knaben, und
warum hast Du
Dich erweitert und trittst an ihrer Statt
auf? Bitte erkläre
Mir dies alles." Auf diese Bitte
Balaramas hin schilderte
Krsna in kurzen Worten, wie die Kälber und die Knaben
von Brahma gestohlen wurden und wie Er Sich erweiterte,
um diesen Vorfall absichtlich zu
verheimlichen, so daß
die Dorfbewohner nicht
bemerken würden, daß die
ursprünglichen
Kälber
und Kuhhirtenjungen
verschwunden waren.
Während Sich Krsna und
Balarama unterhielten,
kehrte Brahma nach Vrndavana
zurück, nachdem er
(gemessen an seiner Lebensdauer) für
einen Augenblick
fortgewesen war. In der
Bhagavad-gita finden wir
folgende Information über die Lebensdauer
Brahmas:
Zwölf Stunden in Brahmas Leben
bestehen aus vier
Zeitaltern, multipliziert mit tausend, also aus 4 300 000 x
1000 Jahren.
Ein Augenblick in Brahmas Leben
entspricht somit
einem unserer Sonnenjahre. Nachdem also nach Brahmas
Zeitrechnung ein Augenblick verstrichen
war, kehrte Er
zurück, um die Verwirrung zu sehen,
die er durch die
Entführung der Kälber und Knaben verursacht hatte. Doch
zur gleichen Zeit hatte er auch Angst, denn er wußte, daß
er mit Feuer spielte. Krsna war sein Herr, und er hatte sich
einen schlechten Scherz mit Ihm
erlaubt, als er Seine
Kälber und Freunde entführte. Er
hatte tatsächlich große
Angst und wagte es deshalb nicht,
lange fortzubleiben,
sondern kehrte (gemäß
seiner eigenen Zeitrechnung)
schon nach einem Augenblick wieder
zurück. Doch zu
seinem großen Erstaunen sah er, daß
alle Kälber und
Hirtenjungen immer noch da waren
und genauso mit
Krsna spielten, wie sie es getan hatten, als er sie das erste
Mal sah. Er hätte schwören können,
daß er sie entführt
und durch seine mystischen Kräfte
in Schlaf versetzt
hatte, und so dachte er: "Alle
diese Knaben und Kälber
habe ich doch entführt, und ich bin mir ganz sicher, daß
sie immer noch fest schlafen. Wie
ist es dann möglich,
daß hier die gleiche Gruppe von
Hirtenjungen und Käl-
bern mit Krsna spielt? Hat meine
mystische Kraft etwa
keinen Einfluß auf sie,
und wurde ihr Spiel im
vergangenen Jahr vielleicht
gar nie unterbrochen?"
Brahma versuchte zu verstehen, wer die Kuhhirtenjungen
waren und wie es möglich war,
daß sie nicht von seiner
mystischen Kraft beeinflußt wurden; doch
trotz allen
Nachdenkens konnte er die Ursache
nicht herausfinden.
Mit anderen Worten, er wurde ein
Opfer seiner eigenen
mystischen Kräfte. Die Macht von
Brahmas mystischen
Kräften erschien genau wie das Leuchten
von Schnee in
der Dunkelheit oder eines Glühwürmchens
am Tage.
Nachts, wenn es dunkel ist, mag
ein Glühwürmchen
leuchten, und am Tage mag Schnee, der auf einem Hügel
oder auf einer Wiese liegt, im
Sonnenlicht hell glänzen;
doch tagsüber hat ein Glühwürmchen
keine Leuchtkraft,
und der Schnee verliert in der
Nacht jeglichen silbrigen
Glanz. Ebenso verhielt es sich auch
mit der mystischen
Kraft Brahmas, als er sie vor
der Allmacht Krsnas
entfaltete. Sie glich Schnee in der
Nacht oder einem
Glühwürmchen am Tag. Wenn jemand
mit geringen
mystischen Kräften seine Macht in
der Gegenwart einer
großen Persönlichkeit mit größeren
mystischen Kräften
zeigt, vermindert er lediglich seine
eigenen Kräfte. Er
kann sie niemals vergrößern. Selbst
eine so bedeutende
Persönlichkeit wie Brahma machte sich nur lächerlich, als
er seine mystische
Kraft in der Gegenwart
Krsnas
entfalten wollte. Brahma wurde auf
diese Weise durch
seine eigenen mystischen Kräfte verwirrt.
Krsna wollte Brahma davon überzeugen,
daß die
Kälber und die Knaben, die nun
mit Ihm spielten, nicht
die ursprünglichen waren, und so
verwandelten sich die
Knaben und die Kälber in Visnu-Formen. In Wirklichkeit
schliefen die ursprünglichen Knaben und
Kälber immer
noch unter dem Zauber von Brahmas mystischen Kräften;
die Kälber und Knaben jedoch, die Brahma vor sich sah,
waren direkte Erweiterungen Krsnas, oder Visnus. Visnu
ist eine Erweiterung Krsnas, und
diese Visnu-Formen
erschienen nun vor Brahma. Alle Visnus hatten eine blaue
Körpertönung und waren in gelbe
Gewänder gekleidet.
Sie hatten vier Arme, und in
Ihren Händen hielten Sie
Feuerrad, Lotosblume, Keule
und Muschelhorn. Sie
trugen funkelnde, mit Juwelen besetzte
Helme, und Sie
waren mit Perlen und Ohrringen
geschmückt und mit
prächtigen Blumengirlanden bekränzt. Auf
Ihrer Brust
befand sich das Srivatsa-Zeichen, und Ihre Arme wurden
von Armreifen und anderen Schmuckstücken
geziert. Ihr
Hals war so glatt wie eine Muschel, an Ihren Fußgelenken
hingen Glöckchen, um Ihre Hüfte
schwang sich ein
goldener Gürtel, und an Ihren Fingern steckten Ringe aus
Juwelen. Brahma sah ebenfalls, daß
über den ganzen
Körper Sri Visnus, von Seinen Lotosfüßen bis zum Kopf,
frische tulasi-Knospen gestreut
waren. Ein anderes
wichtiges Merkmal
der Visnu-Formen
war Ihre
transzendentale Schönheit.
Ihr Lächeln glich
dem
Mondschein, und Ihre Blicke waren
wie der frühe Son-
nenaufgang. Allein schon durch Ihren
erhabenen Blick
offenbarten Sie Sich als die
Schöpfer und Erhalter der
Erscheinungsweisen der Unwissenheit und
Leidenschaft.
Visnu repräsentiert die Erscheinungsweise der
Tugend,
Brahma die Erscheinungsweise der Leidenschaft und Siva
die Erscheinungsweise der Unwissenheit. Als Erhalter der
gesamten kosmischen Manifestation ist Visnu
auch der
Schöpfer und der Erhalter Brahmas und Sivas.
Nachdem Sich Sri Visnu auf diese Weise manifestiert
hatte, sah Brahma, wie viele andere
Brahmas, Sivas und
Halbgötter bis hin zu so unbedeutenden
Lebewesen wie
Ameisen und Gräsern — mit anderen Worten, sowohl die
sich bewegenden als auch die sich
nicht bewegenden
Lebewesen — Sri Visnu
tanzend umringten. Dazu
erklangen verschiedene Arten von Musik, und so brachte
jeder Sri Visnu seine Verehrung dar.
Brahma erkannte
auch, daß
die Visnu-Formen
alle mystischen
Vollkommenheiten
besaßen, angefangen
mit der
anima-Vollkommenheit, durch die man so
klein wie ein
Atom werden kann, bis hin zu der
Vollkommenheit,
unbegrenzt wie die kosmische
Manifestation zu werden.
Alle mystischen Kräfte Brahmas, Sivas
und der anderen
Halbgötter sowie die
vierundzwanzig Elemente der
kosmischen Manifestation waren in der
Person Visnus
vollständig vereint,
und auch die
untergeordneten
mystischen Kräfte nahmen
aufgrund von Sri Visnus
unermeßlicher Macht an Seiner
Verehrung teil. Alle
brachten Ihm ihre Verehrung dar: die Zeit, der Raum, die
kosmische Manifestation, die Kraft der
Erneuerung, die
Wünsche,
die
Aktivitäten
und
die drei
Erscheinungsweisen der
materiellen Natur. Brahma
erkannte auch daß Sri Visnu die
Quelle aller Wahrheit,
allen Wissens und aller Glückseligkeit ist. Er vereinigt in
Sich die dreitranszendentalen Aspekte Ewigkeit, Wissen
und Glückseligkeit, und Er ist das Ziel der Verehrung für
all diejenigen, die den
Upanisaden folgen. Brahma
erkannte darüber hinaus,
daß die Verwandlung der
Knaben und Kälber in Visnu-Formen nicht durch die Art
von mystischen Kräften stattgefunden hatte, wie sie einem
yogi oder einem
Halbgott verliehen sind.
All diese
Formen, in die sich die Knaben und die Kälber verwandelt
hatten, waren als Visnu-murtis keine
Manifestationen
visnu-mayas, der Energie Visnus, sondern
Visnu Selbst.
Die Eigenschaften Visnus und visnu-mayas sind mit Feuer
und Hitze vergleichbar. Hitze besitzt zwar die Eigenschaft
des Feuers, nämlich Wärme, doch sie ist nicht das Feuer.
Die Manifestation der Visnu-Formen war
also nicht wie
die Hitze, sondern vielmehr wie das Feuer, denn Sie alle
waren tatsächlich Visnu. Die
Eigenschaften Visnus sind
vollkommene Wahrheit, vollkommenes
Wissen und
vollkommene Glückseligkeit. Ein anderes Beispiel besagt,
daß sich materielle Gegenstände
gleichzeitig an vielen
Orten widerspiegeln können. Wenn sich z.B. die Sonne in
einer Reihe von Wassertöpfen widerspiegelt, so sind diese
Spiegelbilder — obwohl sie wie die
Sonne aussehen —
nicht die Sonne selbst,
denn von ihnen geht
keine
wirkliche Hitze und
kein wirkliches Licht
aus. Im
Gegensatz dazu waren alle Visnu-Formen,
in die Sich
Krsna erweitert hatte, mit
Visnu Selbst vollkommen
identisch.
Satya
bedeutet
"Wahrheit", jnana
"vollkommenes Wissen" und
ananda "vollkommene
Glückseligkeit".
Die transzendentalen,
persönlichen Formen der
Höchsten Persönlichkeit Gottes sind so unermeßlich, daß
die Unpersönlichkeitsphilosophen, die die
Upanisaden
studieren, niemals die
Stufe des Wissens erreichen
können, auf der
sie in der
Lage wären, diese
Erweiterungen zu verstehen. Insbesondere ist
es diese
Gruppe, die die transzendentalen Formen
der Höchsten
Persönlichkeit Gottes nicht verstehen
kann, denn diese
Formen entziehen sich dem
Vorstellungsvermögen der
Unpersönlichkeitsphilosophen, die durch ihr Studium der
Upanisaden lediglich erkennen können, daß die Absolute
Wahrheit nicht materiell ist und
nicht durch materielle
Energien begrenzt wird. Brahma hingegen
erkannte, daß
Sich Krsna in Visnu-Formen erweitert
hatte, und ebenso
erkannte er, daß alles in der kosmischen Manifestation —
sowohl das Bewegliche als auch das Unbewegliche — nur
aufgrund der Energie des Höchsten Herrn existiert.
Brahma war aufgrund seiner begrenzten
Fähigkeiten
völlig verwirrt, und er wurde sich
seiner Begrenztheit
innerhalb der Schranken der elf Sinne bewußt. So konnte
er zumindest erkennen, daß auch er,
ähnlich wie eine
Puppe, nur eine Schöpfung der
materiellen Energie ist.
Gleich einer Puppe, die nicht
unabhängig nach ihrem
eigenen Willen tanzen kann, sondern
sich unter der
Führung des Puppenspielers, der alle
Fäden in der Hand
hält, bewegen muß, sind auch die
Halbgötter und alle
anderen Lebewesen der Höchsten
Persönlichkeit Gottes
untergeordnet. Im
Caitanya-caritamrta heißt es, daß
Krsna der einzige Meister ist und daß alle anderen Seine
Diener sind. Die ganze Welt
schwimmt auf den Wellen
des materiellen Zauberbannes, und die Lebewesen werden
wie Stroh hin- und hergeschwemmt.
So kämpfen sie
ständig um ihr Leben. Doch sowie man sich bewußt wird,
daß man der ewige Diener der
Höchsten Persönlichkeit
Gottes ist, findet diese maya, d.h. der illusorische Kampf
ums Dasein, sein Ende.
Brahma, der Herr der Göttin der
Gelehrsamkeit, der
als die größte Autorität im
vedischen Wissen gilt, war
verwirrt, da er außerstande war, die ungewöhnliche Macht
zu verstehen, die die
Höchste Persönlichkeit Gottes
entfaltete. Niemand also in der
materiellen Welt, nicht
einmal eine Persönlichkeit wie Brahma,
ist in der Lage,
die potentiellen mystischen Kräfte des Höchsten Herrn zu
verstehen. Brahma war bereits völlig
verwirrt, als er die
Manifestation der Erweiterungen Krsnas
nur sah; wie
hätte er dann
in der Lage
sein können, diese
Manifestationen zuverstehen?
Krsna hatte Mitleid mit Brahma, der nicht einmal das
geringste davon verstehen konnte, wie
Er die Macht
Visnus entfaltete und Sich in die
Kälber und Knaben
erweiterte, und während
Krsna auf diese Weise
die
Visnu-Formen vollkommen offenbarte, zog
Er plötzlich
den Vorhang yoga-mayas über den
Schauplatz. In der
Bhagavad-gita wird gesagt,
daß Krsna, die Höchste
Persönlichkeit Gottes, nicht sichtbar
ist, weil Er vom
Schleier yoga-mayas verhüllt wird. Der
Schleier, der die
Realität verhüllt, wird als maha-maya
bezeichnet, die
äußere Energie, die es der
bedingten Seele nicht erlaubt,
die Höchste Persönlichkeit Gottes, die
Sich jenseits der
kosmischen Manifestation befindet, zu
verstehen. Doch
die Energie, durch die die Höchste
Persönlichkeit Gottes
in gewisser Hinsicht enthüllt wird, aber teilweise dennoch
verborgen bleibt, wird yoga-maya genannt.
Brahma ist
keine gewöhnliche bedingte Seele. Er
ist allen anderen
Halbgöttern weit überlegen, aber dennoch
konnte er die
Entfaltung der Energien
der Höchsten Persönlichkeit
Gottes nicht verstehen. Aus diesem
Grunde verzichtete
Krsna darauf,
weitere Energien zu
manifestieren.
Angesichts derartiger Manifestationen wird
die bedingte
Seele nur verwirrt, und es besteht
nicht die geringste
Hoffnung, daß sie irgend etwas davon versteht. Daher ließ
Krsna den Schleier yoga-mayas über die Szene fallen, so
daß Brahma nicht noch mehr verwirrt wurde.
Als Brahma von seiner Verwirrtheit befreit war, schien
er aus einem todähnlichen Zustand zu
erwachen. Er
öffnete langsam
die Augen,
was ihm große
Schwierigkeiten bereitete, und als er
sich umsah, konnte
er die ewige kosmische
Manifestation wieder mit
gewöhnlicher Sichtweise wahrnehmen. Er
sah die unvergleichliche Schönheit von Vrndavana —
mit seinen
zahllosen Bäumen —, das
die Lebensquelle aller
Lebewesen ist. Vor seinen Augen breitete sich das ganze
heilige Land von Vrndavana aus, wo
alle Lebewesen
transzendental zur gewöhnlichen Natur sind. Im Wald von
Vrndavana leben selbst wilde Tiere wie Tiger friedlich mit
den Rehen und den Menschen
zusammen. Er konnte
verstehen, daß Vrndavana aufgrund der Anwesenheit der
Höchsten Persönlichkeit Gottes transzendental
zu allen
anderen Orten ist und daß dort weder Lust noch
Gier zu
finden sind. Auf diese Weise erblickte Brahma Sri Krsna,
die Höchste Persönlichkeit Gottes, der
die Rolle eines
gewöhnlichen Kuhhirtenjungen spielte. Er
sah diesen
kleinen Jungen, der in Seiner linken Hand eine Süßigkeit
hielt und nach Seinen Freunden und den Kälbern suchte,
genau wie Er es vor einem Jahr
getan hatte, als die
Knaben und Kälber plötzlich verschwunden waren.
Brahma stieg augenblicklich
von seinem großen
Schwan herunter und fiel wie ein goldener Stab vor dem
Herrn zu Boden, um
Ihm seine Ehrerbietungen zu
erweisen. Das Wort, das unter Vaisnavas für diese Art der
Ehrerbietung gebraucht wird, lautet dandavat, was soviel
bedeutet wie "gleich einem Stock zu Boden fallen". Man
sollte
einem
höherstehenden
Vaisnava seine
Ehrerbietungen erweisen, indem man sich
wie ein Stab
langausgestreckt vor ihm zu Boden wirft.
So brachte
Brahma seine Ehrerbietungen
dar, und weil er eine
goldene Körperfarbe hatte, glich er einem goldenen Stab,
der vor Sri Krsna lag. Alle
vier Helme auf den Köpfen
Brahmas berührten Krsnas Lotosfüße, und
weil Brahma
von Glückseligkeit erfüllt war, vergoß
er Freudentränen,
die Krsnas Lotosfüße benetzten. Immer wieder erhob sich
Brahma, um erneut Ehrerbietungen
darzubringen, und
dabei erinnerte er sich unablässig an
die wunderbaren
Taten des Herrn. Nachdem Brahma auf
diese Weise für
lange Zeit seine Ehrerbietungen
dargebracht hatte, erhob
er sich und rieb sich die Augen. Dann begann er zitternd,
dem Herrn, der vor ihm stand, mit großer Achtung, Demut
und Aufmerksamkeit Gebete darzubringen.
Hiermit
enden die Bhaktivedanta-Erläuterungen zum 13. Kapitel des Krsna-Buches:
"Brahma stiehlt die Knaben und Kälber".